Der Parasit und seine biologische Funktion.

Der Parasit und seine biologische Funktion.

Ich habe mit Linda Galle gesprochen, Biologin und Kuratorin der Ausstellung “Parasites – life undercover” des Museums für Naturkunde Berlin. Wir sprachen über die biologische und soziologische Betrachtung des Parasiten und ihre Funktionalität. Es ging darum herauszufinden, wo der in diesem Magazin verwendete Begriff des Parasiten auch im Biologischen übereinstimmt und wo er auf Differenzen trifft.

Jakob Wirth
Wie würdest du den Parasiten definieren?

Linda Galle
Den Parasiten an sich gibt es nicht, sondern es ist wie ein Symbiont einer Lebensform. Nur dass der Nutzen vor allem auf der Seite des Einen liegt und der Andere ist der Ausgenutzte. Es ist eine einseitig gerichtete Beziehungsform, im Sinne von: der Andere liefert Nährstoffe und Lebensraum für den Parasiten.
Jakob
Wir sind gerade in einer Pandemie, deswegen wird so viel wie noch nie über Viren gesprochen. Wie ist das Verhältnis zwischen Virus und Parasit?

Linda
Viren könnten zu den Parasiten zählen, tun sie aber nicht, da Viren keine Lebewesen sind. Sie legen einen ganz ähnlichen Mechanismus an den Tag. Sie sind für mich sogar die Reinform des Parasitismus, weil der Virus in seinen Bestandteilen so reduziert ist, dass er ohne eine menschliche oder eine lebendige Zelle nicht fortbestehen kann. Die Zelle gibt ihm eine Proteinhülle mit einem genetischen Molekül, das in der Mitte DNA oder RNA beinhaltet. Das Virus dringt in die Zelle ein und nutzt dort darin alle vorhandenen Apparaturen, um sich selbst zu vervielfältigen, und geht so von Zelle zu Zelle.

Jakob
Eine sehr ähnliche Art und Weise des Agierens wie die des Parasiten, nur dass der Parasit als Lebewesen gezählt wird und der Virus nicht. Die Zelle ist dann der Wirt und der Virus dringt ein, nutzt die Ressourcen und verlässt sie wieder.

Linda
Auf einem größeren Maßstab ist interessant, dass die Genome aller Lebewesen zwischen den Genen viele Sequenzen haben, die von Viren stammen. Das kann man heute zuordnen und so entsteht, dass ein Teil eines Virus-Genoms in die DNA eines anderen Organismus hineingerät. Das nennen wir horizontalen Gentransfer. Wenn sich von einem Lebewesen in ein anderes etwas überträgt, ohne dass sie sich paaren. Du kannst dir das vorstellen wie ein springendes DNA Stück, was aus Versehen einmal zufällig bei irgendetwas hängen bleibt und dann dort in eine andere DNA integriert wird und dann weitervererbt wird. Und so wächst das Genom im Zeitraum von Jahrmillionen. Das passiert nicht, wenn du dich an Corona ansteckst und dann sind Coronaviren für immer in deiner DNA, aber irgendwann könnte das passieren. Viren sind folglich ein Mechanismus der Evolution und eine Form, wie sich genetische Vielfalt verändern kann.

Jakob
Könntest du das noch einmal weiter ausführen?

Linda
Wenn wir Viren als transponierbare DNA-Elemente sehen, die auf der ganzen Welt unterwegs sind und hier und dort integriert werden, dann ist das eine Form von Mutationsprozess. Evolution findet meistens über Mutation von DNA-Sequenzen statt. Nur eine gewisse Rate an Veränderung geschieht, wenn du viel UV Strahlung oder Atomstrahlung ausgesetzt bist, dann ist die Genveränderung etwas höher. Kleine DNA-Elemente, die sich integrieren, spielen daher eine Rolle, um Mutation zu beschleunigen. Dies wäre nur eine Funktion von vielen anderen.
Diese evolutionäre Funktion lässt sich auch auf den Parasiten übertragen. Denn wenn wir ein bisschen herauszoomen aus dem eigentlich negativen Image des Parasiten, haben sie eine Berechtigung und eine wichtige Funktion im Ökosystem, nämlich dass sie als Motor von Evolution fungieren. Dies geschieht, indem Parasiten dafür sorgen, dass ein Wettstreit zwischen Parasit und Wirt besteht. Der Wirt will den Parasit loswerden und der Parasit will natürlich am Wirt dranbleiben und so entsteht ein Selektionsdruck bzw. Entwicklungsdruck, der sich positiv auf die Evolution auswirkt.

Jakob
Ja das zeigt eine Funktion und positive Wirkung von Viren bzw. Parasiten. Ich habe in Fachliteratur der Biologie auch vom sogenannten Virom gelesen. Ein virales Äquivalent zum Biom, das wiederum die Gemeinschaft der Bakterien im menschlichen Organismus als weiteres Organ begreift und als elementaren Bestandteil von Leben betrachtet. Es hat unter anderem die Funktionen, Proteine und Enzyme zu produzieren. Das Virom ist bisher noch unerforscht und einiges noch unbekannt. Aber nun zur Ausstellung.
Du hast “Parasites – life undercover” kuratiert, was für Parasiten finden sich denn darin?

Linda
Das berühmte Beispiel ist das des kleinen Leberegels. Er sucht sich für die Entwicklung einen Zwischenwirt, nämlich die Ameise. Dort wandert er ins Gehirn und steuert die Ameise fern und bringt diese dazu, an die Spitze eines Grashalms zu laufen und sich dort festzubeißen, indem dort ein Kieferkrampf ausgelöst wird. Das ganze auch noch abends, damit dann die Schafe die Ameise mit dem Gras am nächsten Morgen mitfressen. Denn das ist der Wirt, wo der Leberegel hin möchte, um sich dort weiterzuentwickeln, bis er dann wieder ausgeschieden wird und der Kreislauf wieder von vorne beginnt.

Jakob
Interessant ist, dass die Ameise letztlich ganz klar zum Opfer wird. Es gibt aber auch oft Verhältnisse, wo der Parasit lebt und sich einen Ort sucht, aber der Wirt nicht unbedingt so stark geschädigt wird, dass er daran stirbt.
Ich beziehe mich mit meinem Parasitenverständnis stark auf Michel Serres. Er kommt aus der Kommunikationstheorie und bezeichnet den Parasiten als soziale Figur, also als Rolle in der Gesellschaft, die für Störung sorgt, Irritation erzeugt und letztlich dem Wirt aufzeigt, wo er einmal hinschauen soll. Der Parasit zwickt den Wirt, der dadurch seine Aufmerksamkeit auf das Zwicken lenkt. Er merkt durch das Zwicken, wo seine Grenze beziehungsweise seine Haut ist. Also, vorher spürt er seine eigenen Systemgrenzen oft nicht.
Aber wenn eine Irritation kommt, dann geht sein Fokus drauf – und das ist eine Rolle, die der Parasit einnimmt.

Linda
Aha – ein Störelement.

Jakob
Michel Serres spricht davon, dass der Parasit die Gesellschaft vor dem Tod durch die Ordnung schützt. Ohne die Störung des Parasiten würde das System ihre Entropie, Maßeinheit für Energie, verringern und irgendwann würde es vor Starrheit stehen bleiben. Und der Parasit setzt sich immer an die Grenze, irritiert und dadurch kommen immer wieder neue Informationen ins System. Er sitzt auf der Türschwelle und sagt “Hallo” und lässt etwas hinein und etwas hinaus. Er ist eine Schwellenfigur.
Siehst du da Analogien in der Biologie? Machen solche Aussagen auch in der Biologie Sinn?

Linda
Wie du es beschrieben hast, klingt es für mich wie das Prinzip, das man auch biologisch beobachten kann. Wenn man also rauszoomt aus der rein individuen-basierten Beziehung, zwischen beispielsweise einer Zecke und einem Hund und es auf eine größeren evolutionären Ebene beobachtet, erzeugen Parasiten dann vielleicht keine Irritation aber Energie – sprich Impulse – für das System. Und das beschleunigt Evolution. Daher finde ich das sehr vergleichbar mit dem, was du sagst.

Jakob
In den 80er und 90er-Jahren war die Theorie um Graswurzelbewegungen, die ein System infiltrieren und daraus gesellschaftliche Veränderung erzeugen, en vogue. Genauso war die Virus-Theorie von Baudrillard, die besagt, dass Viren destabilisieren, und das ist ein ganz wichtiges Element, um gesellschaftliche Spannungen zu erhöhen, und dadurch das System ins Wanken zu bringen. Das ist nun sehr bildlich gesprochen.
Wenn wir nun erneut herauszoomen und den Parasiten oder Virus nicht nur auf individuellen Ebene verstehen, wo beginnt es, dass Energie gewonnen wird, oder dass es zur Evolution beiträgt? Das kann man ja in ein, zwei Generationen wahrscheinlich noch gar nicht sehen. Also das sind immer so riesen Zeiträume.

Linda
Das ist schwierig, das allgemein zu sagen. Aber wenn du ein neues Element in ein vorhandenes System einbringst, wie bspw. eine Bettwanze, dann kann dieser Parasit in einen neuen Lebensraum kommen und wenn er dort einen Wirt findet, wo er seine Nische findet, dann kann er sich dort vermehren. Er destabilisiert dann dort.
Und nun kommt es darauf an. Also wenn ein Parasit auf einen Wirt trifft, der völlig unvorbereitet ist, aber einen perfekten Nährboden für den Parasiten bietet, dann kann dies auch total schlecht ausgehen für den Wirt. Und die Population beziehungsweise die Dichte der Individuen kann dann zusammenbrechen.
Dann wäre die Irritation beziehungsweise die Störung, wie du es nennst, zu groß gewesen und kein Treiber von Mutation, sondern dessen Ende für diese spezifische Population.

Jakob
Noch eine andere Frage, die aus der sozialen Theorie kommt, wo der Parasit als eine Figur beschrieben wird, die Nischen besetzt, also Räume besetzt, die vom Wirt nicht unbedingt sofort gesehen werden.
Linda
Die wollen ja nicht gefunden werden.

Jakob
Die Nische ist eine Nische, weil sie nicht gesehen wird, und genau deswegen bietet sie andere Lebensbedingungen, weil dort andere Regeln zählen. Man befindet sich dort außerhalb vom Gesetz, indem man beispielsweise auf einer Brachfläche, die niemand sieht oder kennt, etwas darauf baut.
Das Bau-Ordnungsamt kommt gar nicht erst vorbei, da es eine Nische ist, und die ist viel zu klein für das Amt und daher unwichtig. Die Nische entwickelt ihren eigenen Mikrokosmos und ein eigenes Ökosystem und das ist auch das Spannende am Parasiten. Er findet diese Nischen und braucht sie, um zu überleben, und gleichzeitig ist ihm auch bewusst, dass, wenn er laut wird, irgendwann das Bau-Ordnungsamt kommt und sagt, “hey – wenn ihr fünf Stockwerke hier baut, dann ist hier mal Schluss.” Und dann ist dem Parasiten klar, er wird bestraft und so weiter. Oder er schafft es, vorher zu verschwinden und zur nächsten Nische zu gehen, oder er wird zum Gast und zum Teil vom System und reicht eine Bauordnung nach.

Linda
Oder passt sich an, das passiert häufig.
In der Ausstellung gibt es das Beispiel einer Laus, die auf einer Robbe sitzt. Dieses Tier war evolutionär betrachtet ein Landtier und ist aber dann irgendwann zurück ins Wasser gegangen und da ist der Parasit mitgegangen. Er ist als eine Körperlaus, die angepasst war, an der Luft zu leben, am Tier dran geblieben. Ist wieder mit in das Wasser und hat sich also angepasst und dadurch hat die Laus ihre Nische erhalten.
An diesem Beispiel können wir sehen, dass Parasiten sehr flexibel sein müssen, um zu überleben. Das heißt, es gibt für den Parasiten nur die Wahl – entweder er versucht sich anzupassen beziehungsweise zu adaptieren an die Nische oder er ist von der Bildfläche verschwunden.
Jakob
Was ist denn der biologische Begriff einer Nische?

Linda
Die Nische definiert die Parameter des Lebensraums, der für einen Organismus notwendig ist. Nicht unbedingt geografisch, aber von den Bedingungen drum herum. Du besetzt eine Nische, an die du gut angepasst bist und dies so, dass dir kein anderer die Nische streitig machen kann und dich verdrängt. Das Konzept der Nische im biologischen Sinne heißt also nicht etwas Verstecktes oder Kleines, sondern es beschreibt insgesamt einen Lebensraum, an den du am besten angepasst bist.

Jakob
Noch einmal zurück zur Einweg-Beziehung, die den Parasiten beschreibt. Also, dass er etwas nimmt und der Wirt gibt. Nun in Bezug auf eine künstlerische Praxis. Was mich interessiert ist, an welchem Punkt gibt der Parasit etwas zurück. Lese ich da zuviel hinein? Wir haben vorher in Bezug auf die Zeit darüber gesprochen, die sehr große Dimensionen einnimmt.
Bei so einem künstlerischen Projekt geht der Rücklauf meist über den Diskurs, also darüber, dass andere Leute sehen, dass ein Kunst-Parasit da sitzt und irritiert und dass das gewisse Reaktionen hervorruft. Daher die Frage, wie geht der Wirt mit anderen cohabitierenden Lebewesen oder sonstigen Viren um?

Linda
Du möchtest einen versöhnlichen Parasiten haben…

Jakob
mh – der künstlerische Parasit ist eindeutig unangenehm – er irritiert, lässt sich schwer vereinnahmen, daher weiß ich nicht, ob er wirklich versöhnlich ist.
Das Spannende könnte wiedrum die Frage sein, ob nicht erst dadurch dass eine Zecke den Humd befällt, alle anderen auf den Hund aufmerksam werden. Also übertragen auf die Kunst würde es bedeuten, das ein spezifisches Thema („Hund“) erst durch den Biss des Parasiten in die Aufmerksamkeit kommen. Also wo befindet sich letztlich die Inspirations-, beziehungsweise Kritikquelle?

Linda
Ich überlege gerade, der Parasit als Inspirationsquelle. Letztendlich viele Mechanismen, die Parasiten verwenden, sind interessant, wenn wir sie molekularbiologisch anschauen. Parasiten, die im Körper des Menschen unterwegs sind, in der Blutbahn, müssen sich vor dem Immunsystem tarnen. Und dafür müssen sie Oberflächenproteine entwickeln, die diese Tarnung gewährleisten. Und diese sind wiederum interessant für andere Anwendungen für die Medizin. Es gibt bestimmte sekundäre Nutzungen, die unabhängig der direkten Wirkung des Parasiten auf den Menschen agieren und noch einmal neue Anwendungsmöglichkeiten erzeugen. Denn es sind diese evolutionären Mechanismen, die sich sehr lange entwickelt haben und die man sich nun zu Nutze machen kann als Werkzeuge, um diese in einem anderen Kontext zu verwenden.

Jakob
Also es scheint auch dort eine Entfremdung des Parasiten zu geben. Der Parasit wird selbst wiederum Wirt für Humanmedizin. Ohne es zu wissen hat er eine Technologie entwickelt, diese Oberflächenproteine, die nun als Material, oder wie du es sagst, für eine Sekundärnutzung verwendet werden. Und da sind wir dann wieder bei Michel Serres, der davon spricht, dass der Parasit immer versucht “der letzte in der Kette zu sein.” Der Kette von Parasiten untereinander.