Die soziale Formung von Prozessen des Wahrnehmens und des Erfahrens von Wirklichkeit ist ein zentrales Interesse der Kunstsoziologie. In Bezug auf das Penthaus à la Parasit möchte ich daher im Folgenden der Frage nachgehen, welche Wahrnehmung das Penthaus à la Parasit als künstlerisches Projekt für andere Mitglieder der Gesellschaft für deren Weltwahrnehmen verfügbar macht; was es auf künstlerischem Wege für Gesellschaft sichtbar macht.
Für ein Verständnis der Perspektivität dieser Frage ist zunächst wichtig, dass ich hier mit einem Verständnis von Kunst operiere, das diese in Anschluss an Niklas Luhmann als einer Form der Kommunikation sieht, die individuelles Wahrnehmen für das Wahrnehmen anderer verfügbar macht. Nach der Soziologie Niklas Luhmanns besteht die Eigenart von Kunstwerken nämlich gerade darin, dass diese durch ihre Artifizialität, ihr offensichtliches Hergestelltsein die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die Spezifik dessen, was es da zu betrachten gibt, lenken. „Der Beobachter wird […] als Beobachter gefordert und nicht nur als jemand, der an seinen Rechten, an Gewinn, an Wahrheit interessiert ist. Er wird provoziert zu beobachten, dass er beobachtet“1. Ein wesentlicher Punkt dieser Kunstkonzeption ist hierbei, dass Kunstwerke unter Vermeidung von Sprache kommunizieren. Es sind demnach die im Kunstwerk arrangierten Selektionen die „Wahrnehmbares für Kommunikation verfügbar“2 machen. Kunst fungiert so als ein funktionales Äquivalent zur Sprache: „Kunst gewinnt ihrer Eigenart daraus, dass sie es ermöglicht, Kommunikation stricto sensu unter Vermeidung von Sprache […] durchzuführen“3. Sie ermöglicht dadurch Effekte, die durch Worte und Begriffe nicht in dieser Form erreicht werden könnten, so kann das psychische System „aus Anlass der wahrnehmenden Teilnahme an Kunstkommunikation Erlebnisintensitäten erzeugen, die als solche inkommunikabel bleiben“4. Kunstwerke sind in dieser Perspektive Medien einer kommunikativen Vermittlung zwischen Subjekten, die durch das, was sich in allen anderen gesellschaftlichen Systemen der Kommunikation entzieht – Wahrnehmung – kommunizieren. Während wir sonst nur über Wahrnehmung kommunizieren können, kommuniziert Kunst durch Wahrnehmung.5 Demnach hat man es dann mit Kunst zu tun, wenn das Beobachten von individueller Weltwahrnehmung zum Gegenstand von Kommunikation wird. Kunst wird so zu einem sehr spezifischen Medium der Reflexion von Gesellschaft, macht es doch das Wie einer Wirklichkeitswahrnehmung zum Gegenstand von Kommunikation. Zugleich findet Kunstkommunikation aber erst dann statt, wenn ein Beobachter erkennt, dass das
vorliegende Arrangement für ein Beobachten produziert ist. Bedingung für die Teilnahme an Kunst ist dann, dass verstanden wird, dass hier eine Kommunikation vorliegt, die auf ein Beobachtetwerden zielt.
In meinem Verständnis zeigt das Penthaus à la Parasit im Sinne einer Kunstkommunikation durch ein Formenarrangement eine alternative Form des Wohnens und zeigt so, dass und wie jenseits der aktuell realisierten Wohnpraktiken andere Ordnungen möglich sind, man also über Wohnen auch ganz anders nachdenken kann bzw. Wohnen auch ganz anders praktizieren kann, als dies aktuell in der Gesellschaft geschieht. Zugleich setzt es hierbei ironisch auf als selbstverständlich wahrgenommene, unhinterfragte Konzeptionen zu „Wohnen“ auf – „Lage, Lage, Lage…“ -, grenzt sich durch die hier implizierte Ironie zugleich von diesen ab und macht dadurch seinen kritisch-reflexiven Impetus und die gängigen Vorstellungen vom Wohnen gesellschaftlich sichtbar. Bei all dem verfolgt das Penthaus klare politische Ziele: Es will zu einer dauerhaften Veränderung des Systems beitragen und unterstützt die Kampagne „6 Jahre Mietenstopp“.
Was bekommen wir nun also zu sehen? Welches Wahrnehmen wird hier für unser Wahrnehmen verfügbar gemacht? Um dies zu elaborieren, möchte ich zunächst auf die Konzeption der Figur des Parasiten, wie Luhmann ihn in Anlehnung an Michel Serres für sein Denken fruchtbar gemacht hat, anschließen. An diese Figur von Serres hat ja auch das Penthaus à la Parasit angeschlossen.6
Niklas Luhmann kommt in seinen Arbeiten auf die Figur des Parasiten dann zu sprechen, wenn er Widerspruch und Konflikt behandelt.7 Der Parasit kommt bei Luhmann dann als eine Störung der Kommunikation in den Blick. Eine Störung der Kommunikation setzt nach Luhmann dann ein, wenn nicht klar ist, was eigentlich kommuniziert wird, sondern ein diffuses Mehrfaches bezeichnet wird und das Ereignis keine singuläre Abweichung ist, sondern eine transformierende Abweichung, ein Ereignis, das die Ordnung des Systems dauerhaft verändert.8 Demnach müsste das Penthaus à la Parasit für sich beanspruchen, die Ordnung des Systems Wohnungsmarkt dauerhaft zu verändern und sich insofern im Sinne eines Parasiten nach Luhmann als Keim einer neuen Ordnung verstehen. Liegt diese im Fall des Penthauses à la Parasit vor?
Der Parasit tritt bei Luhmann, wie bereits angesprochen, in Konflikten auf. In Konflikten werden dann bestimmte Erwartungen in der Kommunikation negiert. Dies tritt sicherlich in den Sozialsituationen auf, die sich aufgrund der Immoscout-Anzeige einstellen, und in denen „normale Bürgerinnen“, die auf der Suche nach Wohnraum sind, zu unfreiwilligen Teilnehmerinnen eines Kunstprojektes werden und so mit ihren eigenen Vorstellungen von Wohnen konfrontiert werden. Hier wird zugleich deutlich, dass die im Penthaus á la Parasit praktizierte Form des Wohnens unter aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen nur in der Form einer künstlerischen Intervention möglich und kaum alltagstauglich ist. Und dies umso mehr, als die rechtliche Lücke, die das Penthaus nutzt und so zugleich sichtbar macht, unmittelbar nach der künstlerischen Intervention geschlossen wird.
Wenn der Widerspruch aber erst dann zum Parasiten wird, wenn er die Fortsetzung der Widerspruchskommunikation anstößt, so gilt es zu fragen, inwieweit hier – angestoßen durch das Penthaus – fortgesetzter Widerspruch zu erwarten ist? Wird der Konflikt hier auf Dauer gestellt? Wird hier die Fortsetzung einer erwartungsabweichenden Kommunikationsbeteiligung prozessiert? Unter welchen Bedingungen könnte dies der Fall sein?
Das Penthaus à la Parasit läuft Gefahr, wie viele politisch angelegte künstlerische Interventionen, zwar eine ästhetisch hochansprechende Wahrnehmung von gesellschaftlichen Missständen zu ermöglichen und hierbei eine spezifische Erlebnisintensität zu erzeugen, letztlich jedoch keine Wirksamkeit jenseits der Selbstbestätigung einer liberal bürgerlichen Weltwahrnehmung und Moralvorstellung zu erreichen. Das Penthaus führt, so lange es nur als Teil eines spezifischen Sektors der kulturellen Unterhaltungsindustrie fungiert, in dem die Erwartungen eines bessergestellten bildungsbürgerlichen Klientels durch Gesellschaftskritik bedient werden,9 zu keiner nachhaltigen Irritation und so letztlich zu keiner Veränderung der gesellschaftlichen Machtkonstellationen. Solange das Penthaus nur als ästhetisches Hochglanzprojekt öffentlichen in Erscheinung tritt, wird es das System Wohnungsmarkt wohl nicht nachhaltig irritieren können, sondern lediglich eine Erlebnisintensität erzeugen können, die dem linksliberalen Milieu einen wohligen revolutionären Schauer über den Rücken jagt. Dann aber handelt es sich beim Penthaus à la Parasit letztlich um einen für das System nützlichen Parasiten, der, als lärmdämpfende Kommunikation fungierend, den Konflikt am Ende eher verhindert, indem er dem Wohlfühlempfinden der Besserbürger und deren Wunsch nach Selbstdarstellung entsprechend weitgehend folgenlos, auf der rein symbolischen Ebene interveniert. Und dies umso mehr, wenn die hier praktizierte Form des Wohnens und des Protests letztlich dazu führt, dass die rechtliche Lücke, die das Projekt erst möglich gemacht hat, in der Folge der künstlerischen Intervention geschlossen wird und so der reibungslose Ablauf der bestehenden Verhältnisse, und gesellschaftlichen Machtkonstellationen so umso geschmeidiger aufrechterhalten wird.
Das Penthaus kann dieser Falle als Parasit als Teil der Unterhaltungsindustrie zu verpuffen und hierbei zudem einen noch reibungsloseren Ablauf der bestehenden Verhältnisse sicherzustellen, nach meiner Überzeugung nur dann entgehen und als transformierender Parasit wirksam werden, wenn es seine gesellschaftliche Wahrnehmung als Quasi-Objekt stimuliert. Als solches muss es darauf abzielen durch verschiedene städtische Wohnraumsituationen zu schweifen, so die Netzwerke der verschiedenen örtlichen Wohnungsmärkte und deren Machtgefüge in ihrer Komplexität sichtbar machen und deren Transformation anstoßen. Michel Serres denkt Quasi Objekte wie Bälle in einem kollektiven Spiel, die durch ihre Weitergabe in spezifischen Netzwerken, durch Zirkulation, Tauschakte, Interaktionen in einem Raum verteilter Handlungen je spezifisch entstehen. Sie sind Diskurs und Materialisierung zugleich. Das Penthaus à la Parasit würde dann nicht als singuläre künstlerische Intervention sichtbar, sondern an seinem jeweiligen Standort als Teil eines Machtgefüges. Es könnte dann seinem parasitären Potential als einer ortsspezifischen Intervention gerecht werden. Das Penthaus à la Parasit könnte dann die jeweiligen Wohnungsmarktsituationen im Sinne einer „imaginären Kartierung assoziativer Räume“10 als Netzwerk sichtbar machen. Bedenkt man, wie Bruno Latour herausstellt, dass auch ein großes Netz in allen Punkten lokal bleibt11, so würde ein großes Potential darin liegen, öffentlich wahrnehmbar zu machen, wie sich die Situation in Berlin konkret von der in München etc. unterscheidet, d.h. welche Vermittler, Texte, Objekte, Körper, Architekturen und Gelder hier jeweils wie integriert sind und damit auch, wie hier jeweils langfristig Veränderungen erreichte werden könnten. Hier läge das Potential einer Verstetigung des Konflikts, der schließlich u.U. auch zu Veränderungen führen könnte und sich jenseits einer Ordnungswidrigkeit bewegt, die in der medialen Unterhaltungsindustrie dankbar und folgenlos aufgenommen wird.
References
- Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 97.
- Ebd., S. 21.
- Ebd., S. 39.
- Ebd., S. 83.
- Juliane Rebentisch: Ästhetik der Installation. Univ., Diss.–Potsdam, 2002. (= Edition Suhrkamp), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 90.
- Michel Serres: Der Parasit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981.
- Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Band 666), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989.
- Wolfgang L. Schneider: »Zur Relevanz der Figur des Parasiten für die Theorie sozialer Systeme«, in: Stephan Lessenich (Hg.), Routinen der Krise – Krise der Routinen. Verhandlungen des 37. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Trier 2014. 2015.
- Luc Boltanski/Arnaud Esquerre: Bereicherung. Eine Kritik der Ware, Berlin: Suhrkamp Verlag 2018.
- Sebastian Gießmann: »Verunreinigungsarbeit. Über den Netzwerkbegriff der Akteur-Netzwerk-Theorie«, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaft 7, hier S. 139.
- Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 156-157.
Literatur
Boltanski, Luc/Esquerre, Arnaud: Bereicherung. Eine Kritik der Ware, Berlin: Suhrkamp Verlag 2018.
Gießmann, Sebastian: »Verunreinigungsarbeit. Über den Netzwerkbegriff der Akteur-Netzwerk-Theorie«, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaft 7.
Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008.
Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Band 666), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989.
—: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007.
Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation (= Edition Suhrkamp), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005.
Schneider, Wolfgang L.: »Zur Relevanz der Figur des Parasiten für die Theorie sozialer Systeme«, in: Stephan Lessenich (Hg.), Routinen der Krise – Krise der Routinen. Verhandlungen des 37. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Trier 2014. 2015.
Serres, Michel: Der Parasit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981.