Das Parasitäre in der Pandemie

Das Parasitäre in der Pandemie

Die asymmetrische Gastfreundschaft scheint an ihr vorläufiges Ende gelangt zu sein: Unter der nunmehr zweijährigen Erfahrung der Corona-Pandemie und den an ihr beteiligten Viren sympathisiert niemand mehr mit parasitären Wirtsverhältnissen. Die Kommentierung gesell- schaftlicher Beziehungen mithilfe von Meta- phern biologisch konnotierter Prozesse hat sich zu einer medizinischen Lesart verdichtet, in der sich kaum noch von dem subversiven Potential unfreiwilliger, infizierender Kontakte fantasie- ren lässt. Parasitäre Positionen wurden 1980 prominent als eine Theorie der Kommunikation von Michel Serres in seiner Schrift Der Parasit ausformuliert.1

Als konzeptionelle Strategien in Architektur, Kunst und Design wurden sie 2007 in dem von der Autorin herausgegebenen Kunstfo- rum-Band Parasitäre Strategien vorgestellt.2 Im Hinblick auf die Ausformulierung kulturbe- schreibender Theorien zeigen die parasitären Strategien eine Nähe zu den Virustheorien, die seit den 80er Jahren geradezu viral als Beschreibungsmodelle der Subversion und An- eignung auftraten. Auch in mikrobiologischer Hinsicht teilt das Parasitäre eine Schnittmenge mit dem Viralen, da ein Virus in seinem Ver- hältnis zur infizierten Zelle parasitär agiert.

Nun rückt unter der bedrückenden Erfahrung der Corona-Pandemie die Gefährlichkeit von Viren in den Vordergrund, auch wenn dies eine extreme Verkürzung der Funktion von Viren darstellt. Der menschliche Körper ist von einer Vielzahl von Viren besiedelt, die zum Beispiel den Stoffwechsel unterstützen und so eine dem Körper dienliche Kommunikation in die Wege leiten. Die Virologin Karin Mölling hat in ihrer emphatischen Schrift Viren. Supermacht des Lebens auf die Komplexität virologischer Prozesse hingewiesen.3 So weist Mölling darauf hin, dass Viren im menschlichen Körper lebenser- haltend sind und eine zentrale Rolle bei vielen Stoffwechselprozessen spielen.4

Unter der pandemischen Erfahrung sind Grenzziehungen wichtig geworden, als Schutz- linien für verletzliche Körper und vulnerable Gruppen. Körper wie Institutionen begegnen dem Prinzip der Offenheit skeptisch und schlie- ßen sich nach einer Phase der Öffnung wieder ein. Grenzen werden kontrolliert, Mobilität eingeschränkt, Zugangsvoraussetzungen und Quarantäneregelungen bestimmen den sozia- len Kontakt. Die Soziologen Hubert Knoblauch und Martina Löw sprechen in diesem Zu- sammenhang von einem Spannungsverhältnis zwischen sich widersprechenden Raumlogiken.5 Der „entgrenzte(n) Zirkulation des Virus“ ant- wortet eine rechtlich veraltete „Containerlogik der Körper“, von der man sich Sicherheit und Schutz erhofft.6 Gleichzeitig werden im virtuel- len Bereich Grenzen ausgeweitet. Hier findet auf einem unkörperlichen Weg, vermittelt durch digitale Medien, eine vernetzte Kommu- nikation statt, die in ihrer dynamischen Bewe- gung der Distribution des Virus gleicht.

Die kollektive Erfahrung der Corona-Pandemie ernüchtert nicht nur den Umgang mit biologi- schen Metaphern, sondern schärft auch den Blick für unsere Versuche, Kultur modellhaft

zu fassen. Auf die Problematik, Krankheit als Metapher zu sehen, hat bereits 1977 Susan Sontag deutlich hingewiesen. Sonntag stellt sich dezidiert gegen eine Metaphorisierung der Krankheit, da diese den Blick auf die Wirklichkeit einer Erkrankung und der von ihr Betroffenen verstellt.7 Über Sontags Beobach- tungen hinaus weisen biologische Metaphern stets eine Nähe zur menschlichen Physis auf, was einen distanzierten Blick erschwert. Statt einer Parallele in Richtung Abstraktion lädt ein organisches Erklärungsmodell zu einer Identi- fikation ein. In ihrem Rückgriff auf biologische Prozesse verunklären organische Metaphern gesellschaftliches Handeln zu einer zweiten Natur, die nicht mehr hinterfragt wird. In dieser Problematik stehen auch die als parasitär be- zeichneten Prozesse, die zunächst einer land- läufigen Auffassung folgend negativ als nutz- nießerische Verhältnisse konnotiert wurden. Vor dem Hintergrund von Serres‘ Beobachtungen wurden parasitäre Prozesse dann bevorzugt für subversive Interventionen von rebellischen Widerständlern und schwachen Minderheiten gegenüber einem systemischen großen Bruder in Anwendung gebracht. Im Hinblick auf den gesellschaftlichen Einfluss künstlerischer Stra- tegien wurde die Terminologie der Taktik des Unterwanderns und Nutzens dominanter Struk- turen von „subversiv“ zu „parasitär“ erweitert.

Beschreibungsmodelle parasitärer Beziehun- gen können da erhellend sein, wo sie das Verhältnis zwischen Mit-Esser und Wirt aus dem medizinischen Diskurs herausnehmen in Richtung einer kommunikativen Betrachtung, mit Blick auf Beziehungen, auf Kontakte, auf Annäherungsversuche, Aneignungsverhältnisse sowie die Dynamisierung dieser Relationen. Denn nutznießerische Beziehungen sind nach wie vor zu beobachten und werden nicht nur von sympathischen, widerständig agierenden Minderheiten eingegangen. Das, was häufig vereinfachend als „System“ beschrieben wird, marktbeherrschende Konzerne wie dominante Institutionen, verhält sich ebenfalls parasitär. Gesellschaftlich relevante Inhalte werden nicht eingelöst, sondern man eignet sie sich an, um Aufmerksamkeit und Akzeptanz zu erlangen. Die von der EU in ihrer Taxonomie geplante Qualifizierung von Atom- und Gasenergie als „nachhaltig“ parasitiert in ihrer offensichtlichen Greenwashing-Attitude an der Klimadebatte, um Investoren zu motivieren. In Richtung einer Gesellschaftskritik lassen sich aktuell Aktionen im öffentlichen Raum beobachten, bei denen Werbevitrinen gehackt wurden, um Plakate gegen den Kindesmissbrauch in der katholi- schen Kirche zu platzieren.8

Die heftigen Umarmungen des „Systems“ haben somit nicht nachgelassen und es be- steht noch immer die Notwendigkeit nach störenden Eingriffen. Das Parasitäre hat in der Corona-Pandemie seine Ambivalenz deutlich gemacht, die Serres in dem wechselseitigen Bild von „hôte“ als Feindschaft („hostilité“) und Gastfreundschaft („hospitalité“) ausmacht.9 Die Erfahrung infektiöser Prozesse fokussiert die Beziehung der Feindschaft, wobei Serres hier von winzigen Veränderungen ausgeht, die den Wirt nach einer Phase der Irritation wieder stabilisieren und seine „Resistenz“ erhöhen. Stellenweise zeigt Serres hier eine Nähe zum aktuellen infektiologischen Diskurs, den er jedoch in seiner Schrift konsequent in eine Kommunikationstheorie überführt.10

Mit der Erfahrung von Corona haben sich frühere Metaphern der Grenzüberschreitung in eine physisch erlebbare Wirklichkeit übersetzt. Die Arbeit an der Grenze von Entitäten wird aktuell zumindest mit einer größeren Skepsis beobachtet. Ein wacher Umgang mit unseren Beschreibungsversuchen eines sich immer stär- ker vernetzenden Lebens ist erforderlich. Wenn wir in der Lage sind, organische Metaphern auch mit einem gewissen Abstand zu unseren Körpern zu lesen, kann der Blick auf gesell- schaftliche Beziehungen geschärft werden. Eine Fokussierung der Metapher des Parasitären auf kommunikative Prozesse verdeutlicht das Spiel von Vereinnahmung und Widerstand und kann in Richtung kritischer Gastfreundschaft weiter- gedacht werden. Der Parasit tritt nicht immer viral auf, sondern leitet Veränderungen und Blickwechsel ein. Die Kontaktstellen, die der Parasit aufsucht, unterscheiden sich von der invasiven Dynamik des Virus und betreffen eher das Bild des Körpers als Container. Die aufge- suchte Beziehung erfolgt gezielt und individuell auf den jeweiligen Gastgeber abgestimmt. Am Tisch des Wirts lädt sich der Parasit unauf- gefordert ein und versorgt seine Umgebung mit neuen Erzählungen und Deutungen. Seine Bedeutung liegt nach Michel Serres in der Fähigkeit, Beziehungen einzuleiten und zu verändern: „Und diese Macht beruht einfach darauf, daß er Beziehung ist, daß er nicht im Sein fixiert, nicht an einer bestimmten Stelle festgewurzelt ist, daß er im Funktionieren der Relationen steckt (…)“.11

Die hier benannten relationalen Verschiebun- gen lassen sich an frühen parasitären Projekten veranschaulichen. So geben die ParaSITES von Michael Rakowitz, die der Künstler seit 1998 im öffentlichen Raum in New York und Boston installierte, den instabilen Lebensräumen der Obdachlosen eine neue Sichtbarkeit.12 Die Nutzung der Warmluft vorhandener Abluft- schächte für aufblasbare Wohnräume verstand sich nicht als preiswerte Lösung der Obdach- losigkeit, sondern formulierte ein Statement gegen prekäre Lebensverhältnisse. Gleichzeitig wurden die transitorischen Behelfsräume in ein Verhältnis zur repräsentativen Stadtarchitektur gesetzt. Serres‘ Konzept der Gastfreundschaft offenbarte sich 1986 in den chambres d’ami, einer Kunstaktion in Gent, bei der Künstler vom Museum van Hedendaagse Kunst in die Privaträume von Genter Bürgern eingeladen wurden, um sich dort für einige Wochen einzu- nisten. Eine ähnliche Kunst-Aktion fand 2016, initiiert vom Museum Ludwig, unter dem Titel Hausbesuch in sechs Kölner Privathäusern statt. Mithilfe eines temporären Wohnzimmers gelang dem Künstler Tazro Niscino 2005 mit der Installation Es will mir nicht aus dem Sinn die parasitäre Einhegung eines umstrittenen Denkmals.13 Die Reiterstatue von Wilhelm II an der Hohenzollernbrücke in Köln wurde ab ihrer Brusthöhe von einem Wohnraum umgeben, in dem die Besucher in Katalogen zur Ausstellung Projekt Migration blättern konnten, in physischer Augenhöhe mit der Kaiserstatue. Das Denkmal als Symbol kolonialer Macht wurde dehierarchi- siert und über die Geste der Gastfreundschaft entwickelte sich eine neue Erzählung von Macht und Widerstand.

Parasitäre Interventionen streben eine Neuver- handlung von Grenzen und die subtile Verschie- bung eines übergeordneten Beziehungsgefüges an, das eher abstrahierend und nicht eng bio- logisch gefasst als “Wirt” gelesen werden kann. In wohlwollendem Abstand zu organizistischen Erklärungsmodellen können parasitäre Haltungen eine kommunikative Stärke entfalten. In eher subversiver Absicht adressieren parasitäre Strategien ein eher asymmetrisches Verhältnis zu einer machtvolleren Bezugsgröße. Diese Asym- metrie ist jedoch nicht zwingend, da parasitäres Agieren auch von dominanten Akteuren wie großen Firmen oder politischen Kräften eingesetzt werden kann, wenn dieses Handeln pro- fitabel oder zeitgemäß erscheint. Somit gehört das Parasitieren am Parasitären zur komplexen Logik parasitärer Kommunikation.

Referenzen

1 Michel Serres, Der Parasit (1980), (Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag, 1987).

2 Parasitäre Strategien – Kunst, Mode, Design, Architektur, hrsg. von Sabine Fabo, Kunstforum International, Bd. 185 (Mai-Juni 2007).

3 Karin Mölling, Viren. Super- macht des Lebens (München: Verlag C.H. Beck, 2020).

4 Mölling, 141-144

5 Hubert Knoblauch/Mar- tina Löw, „Die Refiguration von Räumen in Zeiten der Pandemie“, in: Michael Volk- mer, Karin Wer- ner (Hg.), Die Corona-Gesellschaft, (Bielefeld: transcript Verlag, 2020) 89-99, Zitat 95.

6 Ebd., 95.

7 Susan Sontag, Krankheit als Metapher (1977), in: Susan Sontag, Krank- heit als Metapher. Aids und seine Metaphern, (Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag, 2016), 9-74.

8 S Diese Aktion in Köln wurde vermutlich von der Aktivistengruppe Public Space Intervention durchgeführt. Siehe Tim Stinauer, „Plakataktion gegen die katholische Kirche“, Kölner Stadt-Anzeiger, 28.1.2022, 22.

9 Serres, Parasit, 297ff

10 Bevor man Michel Ser- res als frühen Befürworter einer Durchseuchungsstrategie missversteht, sei darauf hingewiesen, dass Serres in einem seiner letzten Texte „Was genau war früher besser?“ (2017) die Vorzüge einer Impfung hervorhob.

11 Michel Serres, Was genau war früher besser? Ein optimistischer Wutanfall (Berlin: Suhrkamp Verlag, 2019).

12 Michael Rako- witz, „Umgehungen. ParaSITE/(P) Lot“, in: Para- sitäre Strategien, 130-137

13 siehe Sabine Fabo, „Die Kunst der (un) freundlichen Übernahme“, in: Parasitäre Strategien, 153-154.